Leseprobe Somehow else | Antonia Sandmann
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Leseprobe
›Somehow else‹
Antonia Sandmann
Rick
Vier Jahre zuvor
»Hey Rick, lass dich mal drücken.« Dave trat an unseren Tisch am Fenster, auf dem schon mein Milchkaffee stand. »Alles Gute zur Approbation, mein Lieber. Das ist so cool!«
Ich saß auf der Eckbank am Stammplatz in unserem Lieblingscafé, schaute zu ihm hoch und begrüßte ihn mit einem Lächeln.
Das ›Cookies‹ gab es erst seit ein paar Jahren in unserer Kleinstadt. Doch wir hatten uns in dem hübsch eingerichteten Café sofort wohlgefühlt und trafen uns seit der Eröffnung regelmäßig mit Freunden hier.
Die Einrichtung bestand aus bunt zusammengewürfelten Möbelstücken. Von einem alten tiefen Sofa, über eine Eckbank im Landhausstil bis hin zu französischen Kaffeehausstühlen, waren beinahe alle Stilrichtungen vertreten. Jeder fand hier schnell seinen Lieblingsplatz.
Unser Favorit war die Eckbank an der Panoramascheibe im vorderen Teil des Lokals. Hier konnte man in Ruhe sitzen und das Treiben in der kleinen Fußgängerzone vor dem Café beobachten.
Dave zog mich hoch in seine Arme. »Wartest du schon lange?«
Ich drückte meinen besten Freund eng an mich und musterte ihn.
Dave sah aus wie das blühende Leben. Er war Personaltrainer, überwiegend draußen unterwegs und neigte dazu, schneller braun zu werden, als ich. Seine dunkelblonden Haare waren an den Seiten kurz und obenher etwas länger.
»Na, versuchst du es mal mit einem Dreitagebart? Steht dir gut.« Aus meinem Lächeln wurde ein breites Grinsen.
»Ja, ich bilde mir ein, dass er die Blicke der Leute auf sich zieht und von dem Anderen ablenkt.«
Mit ›dem Anderen‹ meinte Dave sein auffälliges Feuermal, das sich wie der ausgebreitete Flügel eines Vogels über sein rechtes Auge erstreckte.
»Ich bin froh, dass du mittlerweile genug Selbstbewusstsein hast und über den Kommentaren der Leute stehst.«
Dave nickte. »In der Schulzeit hatte ich echt zu kämpfen. Erwachsene sind weniger beleidigend als Kinder, aber ich muss trotzdem damit leben, dass alle neugierig sind. Was mir immer wieder zu schaffen macht, sind die Einmischungen. Wenn Fremde denken, mir vorschreiben zu müssen, dass ich es wegschminken soll oder solche Scherze. Ist doch meine Sache.«
Wir nahmen uns noch einmal fest in den Arm und Dave klopfte mir mit der flachen Hand auf den Rücken, bevor wir uns auf die gepolsterte Eckbank fallen ließen. Er streifte sich im Sitzen die Weste ab, die er über seinem Hoodie trug und schaute sich neugierig um. »Wow, sie haben hier renoviert. Die Wände waren doch vorher gelb. Das Bordeauxrot gefällt mir deutlich besser. Ich mag es so dunkel. Es wirkt viel gemütlicher.«
Ich nickte. »Das war auch mein erster Eindruck.« Ich deutete auf unseren Stammkellner. »Holger weiß übrigens, dass ich auf dich warte. Dein Kaffee ist unterwegs. Du musst dich nur entscheiden, ob wir uns ein großes Frühstück teilen oder ob du etwas anderes möchtest.«
»Gern das große Frühstück. Aber du knabberst nicht nur an einem Brötchen, sondern wir teilen. Allein schaffe ich das nicht.« Daves Augenbraue wanderte in die Höhe.
Ich grinste und gab Holger das verabredete Zeichen.
»Wie war es gestern bei der Übergabe der Urkunde?« Dave schoss alle seine Fragen auf einmal auf mich ab. »Habt ihr anschließend schön gefeiert? Doof, dass so wenig Platz war, dass die ausgezeichneten Personen nur die Eltern mitbringen durften. Ich wäre gern dabei gewesen. Warum zur Hölle hast du nicht auf meine Nachrichten reagiert?«
Ich warf einen verstohlenen Blick zu meinem Freund und klemmte meine Hände unter die Oberschenkel.
Mein rechtes Knie wippte in schneller Folge auf und ab.
»Willst du ein Glas Sekt? Wollen wir anstoßen?« Ich stellte die Frage, obwohl mein Herz bei Daves Neugier direkt eine Etage tiefer rutschte.
»Willst du ablenken?« Daves zweite Augenbraue wanderte nach oben. »Mensch, lass mich nicht doof sterben. Was ist los?«
Ich seufzte und wusste nicht genau, wie ich ihm das Gefühlschaos erklären sollte, das in mir wütete wie ein verdammter Tornado.
Der Wirbelsturm zog Schneise um Schneise und verwüstete mein Inneres.
Es war mir so peinlich, weil ich nicht einmal die Aufmerksamkeit meiner Eltern hatte wecken können, indem ich bereits mit vierundzwanzig Jahren meine Approbationsurkunde erhalten hatte.
Sie beachteten mich nicht. Es interessierte sie nicht. Ich interessierte sie nicht. Wahrscheinlich war ich in ihren Augen ein Nichts. Doch das Schlimmste daran war, dass ich nicht einmal wusste, warum.
Ich hatte alles gemacht, was sie wollten, war der Vorzeigesohn schlechthin, hatte immer versucht, ihren Anforderungen gerecht zu werden, und hatte sie sogar oft übertroffen. Tja… in einem Arbeitszeugnis würde wohl stehen ›er hat sich stets bemüht‹. Mein Herz krampfte sich zusammen und ein flaues Gefühl attackierte meinen Magen.
»Erde an Rick.« Dave fuchtelte mit einer Hand vor meinen Augen herum. »Halloooo? Jemand zu Hause?« Er umschloss mein Gesicht mit seinen Händen und drehte es zu sich, bis sich unsere Blicke ineinander verhakten. »Hey Rick. Schau mich an. Was. Ist. Los?«
»Sie waren nicht da.« Nur ein heiseres Flüstern. Ich versuchte krampfhaft, die aufkommenden Tränen zurückzuhalten.
Mein Blick sprang von den Servietten zum Salzstreuer, weiter zu der schief liegenden Speisekarte am Nebentisch und zurück zu meiner Hand, mit der ich die nicht mehr vorhandenen Falten aus der Tischdecke strich, nur bloß nicht zurück zu Dave.
Ich wusste, dass er der Letzte war, vor dem ich mich schämen musste. Dennoch tat ich es.
»Wer war nicht … Oh!« Dave drückte meine Hand. »Geht es ihnen gut? Haben sie gesagt, warum sie nicht konnten? Ist irgendetwas passiert?«
»Ja-ha!« Ich schluckte hart und schnaufte das Wort übertrieben freundlich über den Tisch. »Ja, es geht ihnen fantastisch, aber leider hatten sie gesellschaftliche Verpflichtungen.« Ein verkrampftes Lachen löste sich aus meiner Kehle, während ich gegen die Enttäuschung ankämpfte, die sich erneut in den Vordergrund drängen wollte. »Ihre Nachbarin malt und hat seit gestern eine Ausstellung. Meine Eltern waren anlässlich der Eröffnung zu einer Soiree eingeladen. Die ist natürlich sehr viel wichtiger als die Approbation, die ihr Sohn bereits mit vierundzwanzig Jahren erreicht hat. Denn … mal ehrlich … was sollen denn die Nachbarn sagen, wenn man da zur Ausstellungseröffnung gebeten ist und nicht kommt?« Ich ließ den Kopf in den Nacken fallen, schluchzte trocken und rieb mir mit beiden Händen über das Gesicht. Es war so demütigend.
Bis zuletzt hatte ich gehofft, dass meine Eltern kommen würden, nur um eine halbe Stunde vor der Übergabe mit einem kurzen Anruf abgespeist zu werden.
Drei Minuten siebenundzwanzig hatte das Telefongespräch gedauert.
Drei Minuten siebenundzwanzig, in denen sie mir gezeigt hatten, wie wenig ich wert war. Welch kleines Licht ich war.
Wieder und wieder schluckte ich gegen den Kloß an, der sich in meinem Hals gebildet hatte.
Dave sah mich traurig an und strich mir sanft dem Handrücken über die Wange. »Es tut mir im Herzen weh, dich so zu sehen. Ich habe gerade eine Stinkwut auf deine Eltern.« Er rutschte näher zu mir und zog mich in seine Arme. »Ach Mensch, Ricky. Das tut mir so leid. Warum hast du mich denn nicht angerufen? Ich wäre sofort gekommen. Ich war total aufgeregt und hab’ mich so für dich gefreut, aber ich wollte mich euch nicht aufdrängen.«
Ich spürte, wie Dave die Nase an meine Schläfe drückte und tief einatmete, während ich mich in die Geborgenheit dieser Geste fallenließ und plötzlich meinen Herzschlag deutlicher wahrnahm.
Dabei seufzte mein Freund und herzte mich noch ein bisschen intensiver.
Ich dachte nicht weiter darüber nach. Ich lehnte mich in die Umarmung und genoss es, gehalten und verstanden zu werden. »Du drängst dich nie auf. Du bist der Einzige in meinem Leben, auf den ich mich verlassen kann. Du bist mein sicherer Hafen, mein Anker und mein Leuchtturm. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde.« Ich schluckte hart und schaffte es gerade noch, eine Träne wegzublinzeln, als mich die Erkenntnis traf, dass Dave tatsächlich der wichtigste Mensch in meinem Leben war. Und jetzt umso mehr.
»Was wird das? Ein Heiratsantrag?« Dave gluckste leise, sprach aber weiter, bevor ich antworten konnte. »Ich hab dich auch lieb, Rick. Und ich werde immer für dich da sein, okay? Uns wird nichts je auseinanderbringen. Und wehe, du schließt mich nochmal aus!«
[Somehow else | Datum der VÖ: 28. August 2023]
© Text & Cover: Antonia Sandmann; unter Verwendung der Shutterstock-Grafik 603815939;
© Hintergrund: www.anniespratt.com
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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