Leseprobe Kretische Reise | Stephan Martin Meyer
Leseprobe
›Kretische Reise‹
Stephan Martin Meyer
Esteban und Maria fliegen nach Paleochora, das selbsternannte Mekka der Individualtouristen an Kretas Südküste. Was als entspannter Sommerurlaub beginnen soll, wird zum irrwitzigen Trip voller Missverständnisse, absurder Begegnungen und mediterranem Wahnsinn.
Die ungewöhnliche Reisebegleitung: Ein naives Stoffschaf und ein versoffener Plüschbär, die sich unverschämt in jedes Drama einmischen und den Urlaub erst richtig chaotisch machen.
Die Protagonisten: Maria seziert mit spitzer Zunge und zynischem Humor alles und jeden – von deutschen Pauschaltouristen bis zu archaischen Kreten. Esteban, ein erfolgloser Dichter auf der Suche nach sich selbst, kämpft mit seiner Kunst, seiner Identität und seiner sexuellen Orientierung. Eine Begegnung mit einem attraktiven Griechen aus Ostfriesland wirft ihn endgültig aus der Bahn.
Das Buch: Eine brillante Satire über Touristen, die sich für die besseren Reisenden halten – und dabei genauso absurd sind wie alle anderen. Mit schwärmerischen Landschaftsbeschreibungen von Elafonissi bis Gavdos, skurrilen Charakterstudien und einer queeren Coming-of-Age-Geschichte, die berührt und zum Lachen bringt.
Wir fahren weg, obwohl wir uns Sorgen um den Job machen, eine kranke Oma und eigentlich nicht genug Geld zum Verreisen haben. Wir packen die Koffer Anfang Mai mit dem Nötigsten und fliegen in die Sonne – allerdings muss man bedenken, dass das Nötigste für meine Begleiterin schon eine Menge Holz ist. Genauer gesagt: ein sehr großer Koffer. Ohne Rollen. Den sie niemals selbst trägt. Aber was soll’s – wir haben ja Urlaub.
Nicht lange stand die Frage des anzuvisierenden Ziels im Raum. Venusköpfchen schlug vor und ich schlug ein. Sie suchte den Flug, ich buchte die Tickets. Sie will Abenteuer, ich sehne mich nach Ruhe. Ich kenne den Ort bereits, sie noch nicht. Wir machen alles gemeinsam und gehen dabei arbeitsteilig vor. Konsequent.
Venusköpfchen ist natürlich nicht nur ein Kopf. Sie ist viel mehr. Eine Frau. Schön wie die Venus von Milo, allerdings mit zwei funktionstüchtigen Armen. Anbetungswürdig wie die Venus von Botticelli, nur würde sich die hiesige niemals in eine Muschel stellen und an Land treiben lassen. Aber sie ist durchaus die Verkörperung geistiger Liebe. Ein Verwirrspiel ohne Ende. Immer Flausen im Kopf. Kaum zu bändigender Wahnsinn, verpackt in einen wunderschönen Menschen mit einem Herzen aus Gold. Eine gestandene selbstbewusste Frau. Meine beste Freundin. Ein echter Kumpel. Mein Venusköpfchen.
»Nun mach mal halblang«, putzt mich Venusköpfchen runter und gibt mir einen Nasenstüber. »Wenn du mich so über den grünen Klee lobst, dann denken die Leser:innen vermutlich, ich sei hässlich wie ein Grottenolm.«
»Grottenolme sind nicht so hässlich, wie du annimmst.«
»Du lenkst ab.«
Venusköpfchen ist also eine schöne Frau.
»Ist das nicht ein bisschen verkürzt?«
Venusköpfchen ist die mit Abstand schönste Frau, die ich jemals gesehen habe.
»Moment – was ist mit dieser Schauspielerin – wie hieß sie doch gleich – Marlene Dietrich?«
»Die Dietrich ist tot.«
Meine Geliebte ist so schön, dass ich sie ununterbrochen ansehen könnte. Punkt.
»Das klingt irgendwie so, als seien wir ein Paar. Dabei sind wir nur Freunde.«
Natürlich sind wir nur Freunde. Beste Freunde. Kumpels. So wie Josef und Maria. Wie Kermit und Piggy. Wie Gitte und Hænning. Wie Ernie und Bert. Alles nur gute Freunde. Wir teilen viel miteinander. Oft den Humor. Nicht die Wohnung. Und nie das Bett.
»Jetzt erzähl mal den Leuten nicht gleich unsere ganze Lebensgeschichte. Du sollst über die Reise nach Kreta schreiben. Mehr nicht. Punkt.«
Und über unsere Begleiter.
»Legst du jetzt los?«
Venusköpfchen steht mit dem gepackten Koffer in ihrer Tür. Ich stehe davor, sehe sie an und stecke das Notizbuch weg, um ihr einen kräftigen Schmatzer auf die Nase zu setzen.
Los geht’s.
»Hallo«, sagt das Schlamm.
»Hallo«, sage ich.
Das Schlamm zieht die Augenbrauen hoch, sieht mir tief in die Augen und rührt mich an.
»Lass das«, sage ich. »Du kannst es so oft versuchen, wie du willst. Du bleibst hier.«
»Was?«, fragt das Schlamm und zieht die Augenbrauen noch höher.
»Hör auf«, sage ich und wende mich ab. »Wir fahren ohne dich nach Kreta.«
»Was?«, wiederholt das Schlamm seine Frage, weil es die vorherige schon wieder vergessen hat.
»Eins«, sage ich.
Das Schlamm schläft auf der Stelle ein und fällt um. Das ist allerdings nicht schlimm, denn erstens ist das Schlamm ganz klein und fällt nicht tief und zweitens besteht es zu fünfundneunzig Prozent aus Polyacryl.
Ruckartig hebt das Schlamm wieder den Kopf. »Du lügst«, blökt es und schläft erneut ein.
Vermutlich sollte ich an dieser Stelle ein paar Worte zum Schlamm verlieren, bevor ein eilfertiger Leser (oder eine Leserin) mit Avancen zum Tierschutz die Polizei ruft. Ein Schlamm ist – obwohl es das natürlich selbst vollkommen anders sieht – ein Kuscheltier. Es ist ein Bündel aus gewebtem Stoff in Beige und Schwarz, zurechtgeschnitten in China, wie das Etikett an seinem Allerwertesten mitteilt, gefüllt mit weißer Watte und einem sandartigen Material im Bereich des Stummelschwanzes, womit es allerliebst wackeln kann. Oben sind zwei sehr kleine Plastikknöpfe sehr nah nebeneinander an den Kopf genäht, die wohl Augen sein sollen.
Aufgewachsen ist das Schlamm in der Stofftierabteilung des Kölner Karstadt zwischen vielen seiner Art, einer ganzen Herde sozusagen, der es zum Behufe einer Schenkung an meine Begleiterin entrissen wurde. Seine damals beste Freundin war eine depressive Stoffgiraffe. Gerda. Die Herde hat es längst vergessen, da sein Kopf bekanntlich mit Watte gefüllt ist und es sich logischerweise nichts merken kann. Fast nichts. Verrückterweise behält es genau die Informationen, die es lieber nicht hätte mitbekommen sollen. Der Kontakt zu der Giraffe brach selbstverständlich damals ab. Hin und wieder fällt dem Schlamm dieselbe ein und es fragt unter Tränen nach Gerda.
Ein Schlamm ist eine ungewöhnliche Kreuzung aus dreiundzwanzig Stunden Schlaf und einem zu klein geratenen Lamm. Über seinen Namen macht es sich niemals Gedanken, denn würde es das tun, würde vermutlich die Watte innerhalb von Sekundenbruchteilen zu einem kleinen hässlichen Klumpen schmelzen. Schade wäre es für das Schlamm – der Umwelt wäre es ein Genuss. Denn dann würde es weniger reden.
Aber da das Schlamm nun einmal da ist, macht es auch keinen Hehl aus seiner Anwesenheit. Die einfachste und effektivste Methode, sich das Schlamm vom Hals zu halten und es vor allem daran zu hindern, unerträglichen Unsinn von sich zu geben, ist, es zu beauftragen, bis drei zu zählen. Da das Gehirn eines Schlamms schnell überfordert ist, fällt es bereits nach der Eins augenblicklich in Tiefschlaf, aus dem es erst dann wieder erwacht, wenn es von einer Fünf träumt. Warum Letzteres so ist, konnte bislang niemand herausfinden. Auch Informationen, wie schnell nach dem Einschlafen ein Schlamm-Traum von einer Fünf heimgesucht wird, entziehen sich derzeit wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Unser Schlamm auf jeden Fall schläft jetzt. So besteht große Hoffnung, die Wohnung verlassen und ins Taxi zum Flughafen springen zu können, bevor es sein Gesicht an das Fenster des Schlafzimmers pressen und bittere Tränen der Verzweiflung vergießen kann oder es sich den Kopf wegen der Hoffnungslosigkeit der Situation am Fensterrahmen blutig schlägt und sich das Herz publikumswirksam aus der Brust reißt.
»Wohin geht ihr?«, fragt das Schlamm und macht mit drei Worten jede Hoffnung auf einen ruhigen Urlaub zunichte. Die Fünf scheint erstaunlich früh im Traum des Schlamms erschienen zu sein.
»Lass es doch mitkommen, Hasenzähnchen«, bittet das Venusköpfchen mitgefühlig. Ein vor Begeisterung wahnsinniges Schlamm-Gesicht blickt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Und da man Venusköpfchen keinen Wunsch ausschlagen sollte, packe ich das wiedererwachte Schlamm an den Ohren und stopfe es in die Tasche.
»Aua, aua, aua, aua«, jammert das Schlamm.
»Ruhe jetzt«, murmele ich, denn ich will keine Diskussion mit dem Taxifahrer darüber führen, ob aus meiner Tasche eine Stimme erklingt, die sich über seine Fahrweise beklagt.
»Ich muss kotzen«, grollt es aus des Venusköpfchens Koffer.
»Oh nein«, meine ich fassungslos. »Das hast du nicht ernsthaft getan.«
Doch. Hat sie. Venusköpfchen hat auch seine Exzellenz, den ehrwürdigen Öwwes mitgenommen. Ich verehre Venusköpfchen wirklich. Ich werde sie stets verehren. Aber ihr Mitgefühl gegenüber sprechenden Stofftieren habe ich nie verstanden. Zumindest nicht immer. Für das Schlamm gibt es handfeste Argumente. Die eng stehenden Augen, der leicht debile Blick, die Naivität und nicht zuletzt der Unterhaltungswert, der sich durch seine Gesprächsfetzen ergibt. Aber bei Öwwes hört mein Verständnis auf. Alles hat seine Grenzen.
Um einen Öwwes zu verstehen, muss man einmal in Köln gewesen sein. Diese Stadt, die sich wie ein Kuhfladen zu beiden Seiten eines schmutzigen Flusses ausbreitet, zugepflastert mit hässlichen Gebäuden zwischen vollbetonierten Plätzen, die keine Plätze im herkömmlichen Sinne sind, angefüllt mit penetrant singenden Eingeborenen, die zwar von der ersten Lebensstunde an in Kopfschmerzen verursachendem Bier eingelegt werden, dabei aber unschlagbar sympathisch sind. Wer hier aufgewachsen ist, der kennt seinen Öwwes. Wer hinzugezogen ist, braucht einen Vermittler. Denn Öwwes ist niemand anderes als ein kleiner Junge, dessen Eltern sich mit der französischen Aussprache des Namens ihres Sprösslings, den sie zwar selbst gewählt, aber nie verstanden haben, schwertun. Yves. Wie der Saint Laurent. Oder der Klein. Oder der Rocher. Und da der Kölner importierte Fremdworte immer so ausspricht, als wären sie dem eigenen Idiom entsprungen, klingt ein Yves eben wie ein Öwwes. Manchmal auch wie ein Üffes. Das ist eine Frage der Rheinseite.
Der gerade in des Venusköpfchens Koffer zu kotzen drohende Öwwes jedoch ist keinesfalls in Köln aufgewachsen. So wie das Schlamm aus China stammt, sind seine Wurzeln in Bangladesch zu finden, worauf er sich einiges einbildet, denn er sieht darin den Beweis, ein Weltenbummler zu sein, ein Seefahrer, ein Marco Polo der besonderen Art, wenn nicht gar einer der berühmten Freibeuter, die die Weltmeere jahrhundertelang mit Angst und Schrecken überzogen. Aber machen wir uns nichts vor: Noch vor einem Jahr saß ebendieser Öwwes in der ersten Etage einer Kölner Shoppingmall, wie es sie zu Tausenden in unserer Republik gibt, mitten unter sorgfältig frisierten Barbies, die nichts als Luft zwischen den Plastikohren haben. Öwwes ist ein Bär. Nicht aus dem Hause Steiff, wie seine adeligen Zeitgenossen, sondern von einer Billigfirma, deren Mitarbeiter jeden Tag aufs Neue ausgebeutet werden. Vorausgesetzt, das Dach ihrer Fabrik bleibt da, wo es im Sinne des Erbauers sein sollte, und die Essensrationen reichen, um den Energiehaushalt zumindest in den Vierzehn-Stunden-Schichten zu sichern.
Ebenjener Öwwes liegt nun im Koffer des Venusköpfchens, beschwert sich, dass er zu wenig Alkohol habe und dass es viel zu eng sei.
»Wir können den Teddy nun wirklich nicht allein zu Hause lassen. Letzten Sommer hat er meine gesamte Wohnung verwüstet.« Venusköpfchen sieht mich streng an. »Du erinnerst dich?«
Ich erinnere mich.
»Was?«, fragt das Schlamm aus meiner Tasche.
Ich gebe auf. Und hieve den Bären mitsamt seiner augenblicklichen Unterkunft in den Kofferraum des vor der Tür haltenden Mietfahrzeugs, das von einem iranischen Taxifahrer gesteuert wird, und hoffe das Beste. Was auch immer das sein wird.
»Ooooh«, stöhnt Öwwes aus dem Koffer.
»Zum Flughafen«, murmele ich dem Iraner zu, der irritiert in Richtung Kofferraum schaut, und wir steigen ein. »Aber nicht zu schnell fahren. Bitte.«
Der Mann hinter dem Steuer fixiert mich mitleidig.
»Wird Ihnen schlecht?«, will er wissen.
»Nein, mir nicht.«
»Ihrer Frau?«
»Nein.«
»Warum dann langsam fahren?« Die buschigen Augenbrauen ziehen sich in die Höhe wie beim Schlamm. Er lässt den Motor aufheulen.
»Das wollen Sie nicht wissen, glauben Sie mir.«
Das Taxi fährt mit Schwung an.
Öwwes kotzt.
[Kretische Reise | Datum der VÖ: 07. Juni 2024]
© Text & Cover: Stephan Martin Meyer;
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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