10. Oktober 2024

Sophie Edina

Die kleine Sophie sitzt im Zug. Auf dem Schoß ihrer Mutter liegt ein rot gebundenes Notizbuch. Sophie wird nun schreiben. Sie wird ihre Großmutter besuchen, irgendwann wird sie eingeschult werden, aber schon jetzt wird sie eine Geschichte erzählen. Es wird um die Dinge gehen, die sie selbst aus ihren Lieblingsbüchern kennt: Hühner aus „Petterson und Findus“ und den Scheinriesen aus „Jim Knopf“. Die Hühner werden Geschenke bekommen, Riesen werden eigentlich Zwerge sein und umgekehrt. Und auch fünfundzwanzig Jahre später wird sie sich erinnern, dass in diesem Zug, mit diesem roten Notizbuch ihre eigene Geschichte beginnt – die Geschichte der Autorin, die sie fortan sein wird.

Im Leben von Sophie Edina lässt sich rückblickend sehr leicht nachvollziehen, dass das Schreiben immer ein Teil von ihr war: Ein Bedürfnis, das sich je nach Lebensphase auf unterschiedliche Art manifestierte, sich ihren Interessen, Visionen und Wünschen anpasste. In der Kindheit war sie neugierig auf fantastische Geschichten, aber schon in der Grundschule schmiedete sie mit ihrer damals besten Freundin den Plan, eine eigene Zeitschrift zu gründen. In der Naivität der frühen 2000er sammelten sie Songtexte und Filmrezensionen aus dem Internet, editierten Titelseiten in Paint, bastelten Extras und interviewten sich selbst. Hierfür kreierte sie ein erstes Pseudonym und kreierte zunehmend ein fiktives Universum um dieses Alter Ego auf.

In den frühen Teenagerjahren begannen die Schwärmereien für Stars. Weil eine „FanFiction“ viel zu offensichtlich gewesen wäre, konstruierte Sophie die erste Idee für einen Roman, in dem sich ein unscheinbares Mädchen mit einer hippen Pop-Band anfreundete und dabei selbst die Liebe zum Singen und Liedtexten entdeckte. Sophies eigene musikalische Bildung, sie spielte Klavier und sang im Chor, verfestigte das Interesse an Liedtexten zunehmend. Dank ihrer Englischlehrerin, die ihnen Vokabeln gern mithilfe von Popsongs beibrachte, schreckte sie dabei auch nicht davon zurück, auch englische Lieder zu schreiben. Das Komponieren von Melodien lag dabei allerdings außerhalb ihres Fähigkeitsbereich.

Aber auch die Fiktion zog Sophie in dieser Zeit magisch an. Sie stürzte sich in Film-Franchises, spielte ganze Szenen nach, teilte ihren Klassenkamerad:innen heimlich Rollen in ihren Lieblingsfilmen zu und spielte mit ihren Freundinnen mit Ideen, aus denen Titel, Plots, Figuren oder andere Aspekte von potentiellen Büchern wurden. Ihr erstes größeres Romanprojekt wurde eine Fantasygeschichte voller Elfen und Dämonen. Aber schon damals war sie selbstkritisch: Sie merkte, wie es ihr an Durchhaltevermögen mangelte, langfristige, große Projekte zuverlässig umzusetzen. Sie merkte auch, wie unausgereift ihr Schreibstil noch war, wie sie ihn noch finden und festigen musste. Zugleich verstand sie, dass das Überangebot an Ideen, das sich in ihrem Kopf tummelte, ein Geschenk war, von dem sie später noch profitieren würde. In ihrer Vorstellung würde sie älter werden, ihre Kreativität würde einrosten, während andere Fähigkeiten sich stärker herausbilden würden, sodass sie dann auf ein breites Portfolio an möglichen Projekten zurückgreifen können würde.

Und dann war da noch eine Countrysängerin mit blonden Korkenzieherlocken, die sie auf „Youtube“ entdeckte, und die romantisch-tragische Geschichten voller Poesie und Leidenschaft erzählte. Ihr Name war Taylor Swift und sie ließ Sophie träumen, von all den Dingen, die sie noch nicht selbst erlebt hatte, aber die sie in der Kunst erfahren durfte, in der eigenen, aber auch der von anderen.

Als sie dann ein Mädchen kennenlernte, mit der sie gemeinsam all diese Träume träumen konnte, von staubigen Landstraßen in den USA, unerschütterlicher Treue und Verbundenheit, von Werwölfen, Vampiren, Dämonenjägern und Kleinstadtjungen, fand ihre kreative Seele ein zuhause an einem Ort, der fortan für immer halb Wirklichkeit und halb Fiktion sein würde: Weiter mehr ein Rückzugsort, als ein Arbeitsplatz.

Erst als sie Studentin war, besuchte sie in einem Traum eine Muse, die sie so vehement an metaphorischen Schultern rüttelte, dass sie nicht mehr wegsehen konnte. Ein junger Mann, eine faszinierende Mischung aus ihr selbst und einer Schwärmerei, erschien ihr und forderte eine Liebesgeschichte ein, die zugleich ein einen glücklichen und einen traurigen Verlauf nimmt, je nach Perspektive des Erzählenden. Also öffnete sie eine der Schubladen, in denen ihre Projektideen schlummerte, und erschuf ihren ersten vollständigen Roman. Aber auch das erschien mehr wie ein Testlauf. Sie streckte ihre Fühler nach Onlinecommunities aus und fand zum ersten Mal etwas wie ein Publikum. Doch der Schritt von einem Manuskript in einem Onlineforum zu einem veröffentlichten, handfesten Roman ist bekanntermaßen ein weiter. Und diese Schritte nahm sie weiter (noch) nicht. Sie wusste nun, dass sie eine Autorin war, aber in die Welt hinaus schrie sie es nicht.

»Zugleich verstand sie, dass das Überangebot an Ideen, das sich in ihrem Kopf tummelte, ein Geschenk war, von dem sie später noch profitieren würde.«
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Es musste eine weltweite Pandemie kommen, die passenderweise mit dem Ende ihres Psychologie-Studiums zusammenfiel, dass sich Zeit und Muße ergab, noch lauter zu werden. Plötzlich ging alles so schnell, als hätten ihre Pläne schon lange in ihr gereift und es musste nur der Moment kommen, in dem sie bereit war, die Schale abplatzen zu lassen. Es fand sich ein Pseudonym, angelehnt an eines der prägendsten Bücher ihrer Kindheit, „Sophie’s Welt“ und den Ort auf der Welt, an dem sie sich am meisten mit sich selbst verbunden fühlte: Die schottische Hauptstadt Edinburgh (lateinisch: Edina). Sie beobachtete und lernte von der Bookstagram-Community, brachte sich mit Fachwissen und lauten Meinungen ein und dann hielt auch das letzte große Puzzlestück in ihre Identität als Autorin Einzug: Die Queerness.

Genauso, wie Sophie immer schon eine Autorin gewesen war, ohne es wirklich zu merken, genau so, wie sie introvertiert war, was sie über Jahre versucht hatte zu verlernen, so war sie immer schon queer gewesen, ohne, dass es ihr aufgefallen wäre. In einer heteronormativen Welt reicht es, sich zu Männern hingezogen zu fühlen und alle Gefühle gegenüber weiblichen und nichtbinären Personen nicht so genau zu analysieren, damit die eigene Bisexualität fast dreißig Jahre unter der Oberfläche brodeln kann. Ein gesteigertes Interesse an queerer Kultur, eine Faszination für jene, die gesellschaftliche Rollen aufbrachen und eine steigende Frustration über Klischees und Intoleranz reichten nicht aus, um sich ihrer selbst bewusst zu werden. Auch der Plan, nun ein queeres Buchprojekt, die Liebesgeschichte zwischen einem bisexuellen Schauspieler und einem homosexuellen gutherzigen Barkeeper (später: „Coming of Rage“) schien zunächst eher ein Widerspruch mit ihrer eigenen Identität zu sein. Aber dann kamen die queeren Bücher. Dann kam „Heartstopper“ und es krachte in Sophies Kopf, als wäre eine Falltür aufgesprungen und hätte sie vom Dachboden der Unwissenheit in das Anwesen ihrer Realität stürzen lassen. Plötzlich ergab alles Sinn. Und deshalb glaubt Sophie heute so sehr daran, dass queere Geschichten wirklich etwas bewegen können, nicht nur unterhalten. Deshalb liebt sie dieses Genre, deshalb setzt sie sich laut und stolz für wertschätzende Repräsentation ein, informiert sich und andere über Verknüpfungen mit psychischer Gesundheit und liest, liest, liest queere Geschichten, Dutzende pro Jahr. Deshalb erkundet sie ihre eigenen Gefühle und ihre Identität in Gedichten, nimmt neue Perspektiven ein und erweitert die Konzepte von Liebe und Geschlecht innerlich immer weiter, bis jeder darin einen Platz findet, bis auch in ihr alle Puzzlestücke dort sind, wo sie hingehören.

Text & Bilder © Sophie Edina;
mit freundlicher Genehmigung.
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