Mittsommerlegende – Unerwartetes Glück | Sabine Reifenstahl
Leseprobe
›Mittsommerlegende – Unerwartetes Glück‹
Sabine Reifenstahl
»Zur Einsamkeit verflucht.«
Einst von Ulik in den Bann gezogen, wurde Magnus ungefragt in einen Vampir verwandelt. Seither flieht er vor seinesgleichen. Menschen meidet er ebenso, denn sie sind vergänglich wie Asche im Wind. Besser ohne Liebe leben, als den Geliebten altern und sterben zu sehen oder ihn zur Ewigkeit zu verdammen.
Als Magnus die kleine Hundedame Arie rettet und ihr Herrchen Jo trifft, geraten die Vorsätze ins Wanken. Die beiden erwärmen Magnus’ erkaltetes Herz und geben seinem Dasein einen Sinn. Bis Ulik auftaucht und Jo bedroht.
Um ihn zu retten, muss sich Magnus seiner größten Angst stellen und eine Entscheidung treffen, für die Jo ihn hassen wird.
Die Ablenkung nutzte er und hatte die Jeans bereits zugeknöpft, als Jo sich ihm wieder zuwandte.
»Wow«, sagte er. »Die steht dir hervorragend.«
»Danke, du hast ein ausgezeichnetes Augenmaß. Ich hätte nicht gedacht, dass ich da reinpasse.«
»Sieht besser aus als das schlapprige Ding, das du vorher anhattest.«
»Ich nehme an, das war als Kompliment gemeint. Nochmals vielen Dank.«
»Gern geschehen. Du kümmerst dich ja um meine Arie.«
»Das ist ganz schön viel Zeug für einen Hund. Wie erklärst du das deinem Freund?«
Jos Gesicht verdunkelte sich, er seufzte. »Nick denkt, sie ist tot.«
»Ist das klug?«
»Vermutlich nicht, aber ich hab den Moment verpasst, es richtigzustellen. Nein, das stimmt nicht.« Nervös knetete er seine Finger. »Eigentlich wollte ich Nick verletzen. Mit dem, was er Arie angetan hat, ist der Bogen überspannt!« Leise gab er zu: »Ich bin auch ein furchtbarer Mensch!«
»Der furchtbare Mensch ist dein Freund. Das hat er sich selbst zuzuschreiben.«
»Trotzdem fühlt es sich nicht richtig an.« Aus einer Tüte beförderte er eine Flasche Wein, Frikadellen und Brötchen. »Wollen wir essen?«, fragte er. »Meine Oma meint, Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.«
Leib und Seele, wiederholte Magnus im Stillen. Wie sollte er erklären, dass diese Art von Nahrung bei ihm nichts zusammenhielt, sondern seine Eingeweide zerriss?
Resigniert blickte er zur Decke. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten ließ er jemanden an sich heran. Ein fataler Fehler. Das konnte nicht gut ausgehen, denn er war kein Mensch.
»Hab ich etwas falsch gemacht?«, erkundigte sich Jo mit besorgter Stimme und stand auf. »Darf ich mich zu dir setzen?«
»Besser nicht«, erwiderte Magnus, obwohl ihm eine Zustimmung auf der Zunge lag. Das Verlangen nach Nähe schmerzte so heftig, dass er irritiert die Hand auf seinen Bauch legte. Was war los mit ihm? Warum brachte Jo ihn so aus dem Konzept? – Er bot an, was der Vampir mehr als alles ersehnte. Und wie das Sonnenlicht fürchtete.
Wo sollte das hinführen? Entwickelten sich aus der flüchtigen Bekanntschaft ernsthafte Gefühle, würden sie in einer Tragödie münden. Ein Mensch glich einem Blatt im Wind im Vergleich zur Ewigkeit eines Unsterblichen.
Trotz des Wissens darum nickte Magnus und sah zu Jo auf. Von dem jungen Mann ging eine unheimliche Anziehungskraft aus. Mit seiner zuvorkommenden, fast naiven Art stampfte er alle Vorsätze in Grund und Boden.
»Ich hab keine Angst vor dir«, sagte er und nahm auf der Matratze Platz. Die Ursache für das Zögern missdeutete er und fuhr ermutigend fort: »Egal, weshalb du auf der Flucht bist, gewiss bist du kein schlechter Mensch.«
»Nein, bin ich nicht«, bestätigte Magnus und spürte, wie das dünne Eis, auf dem er sich bewegte, Risse bekam. Eine Hand legte sich behutsam auf seine.
»Ich möchte dir gern helfen. Zumindest im Rahmen meiner Möglichkeiten. Was brauchst du?«
»Wo soll ich anfangen?«
Jo griff nach der Weinflasche und öffnete den Schraubverschluss. »Möchtest du?«
»Wein vertrage ich nicht.«
Nach einem tiefen Zug aus der Flasche fragte er: »Womit beginnen wir?« In den Fingern drehte er ein Brötchen. »Bekommt dir das auch nicht?«
»Du bist sehr neugierig. Bestündest du auf Antworten, sähe ich mich gezwungen, mein Geheimnis zu wahren, indem ich dich töten.«
»Sehr lustig!« Jo zögerte und riss die Augen auf. »Das war kein Witz, oder?«
»Ich will dir nichts tun, doch manche Dinge bleiben besser unausgesprochen.«
»Aber ich würde dich nie verraten. Egal, was du mir erzählst.«
»Ich könnte ein gesuchter Mörder sein.«
»Du sagtest, du bist nirgends ausgebrochen.«
»Weil man mich vielleicht noch nicht geschnappt hat.«
Jo drückte Magnus’ Finger fester. »Hast du wirklich jemanden getötet?«
»Du lässt nicht locker, oder?«
»Ich möchte dir helfen.«
»Warum?« Vergeblich bemühte sich Magnus, die Hand zu befreien, und wurde mit erstaunlicher Kraft festgehalten.
»Hör auf! Ich meine es ernst. Du tust etwas Unschätzbares für mich, dafür möchte ich mich revanchieren. Was würde dir am meisten helfen?«
»Wenn du aufhörst, mich auszufragen.«
Jo stieß die Luft aus. »Du machst es mir nicht leicht.« Er riss das Brötchen in zwei Hälften und legte eine Frikadelle darauf. »Möchtest du?«
»Nein. Du solltest jetzt besser gehen!«
»Weil ich drauf und dran bin, dein Geheimnis zu lüften? Ich lass dich nicht im Stich. Mir ist egal, wer oder was du bist.«
Die Worte klangen ehrlich und berührten Magnus an einer Stelle in der Brust, die vor langer Zeit zu schlagen aufgehört hatte. »Du hast ja keine Ahnung.«
»Dann erklär es mir! Kein Wein, kein Brot, kein Fleisch.« Behutsam drehte Jo die Hand, die er umklammert hielt, und bettete die Fingerspitzen auf dem Handgelenk. »Kein Puls«, fuhr er nach einer Weile fort und umschloss Magnus’ Rechte. »Du bist kein schlechter Mensch, weil du nicht menschlich bist, oder?«
Alles ging viel zu schnell, um es zu verhindern. Überraschenderweise sprang Jo nicht panisch auf, sondern hielt Magnus weiterhin fest. »Wer bist du?«
»Jemand, den du fürchten solltest.«
»Unsinn. Warum versuchst du, mir Angst einzujagen? Du hättest Gelegenheit gehabt, mir etwas zu tun. Das war jedoch nie deine Absicht.«
Die Zuversicht in dieser Behauptung brachte Magnus dazu, bestätigend zu nicken. Unsicher fragte er sich, wieso Jo so ruhig blieb. »Du reagierst außergewöhnlich. Sonst begegnet mir Panik und Schrecken, die Vorstellung, neben einem blutsaugenden Ungeheuer zu sitzen, muss dich doch ängstigen.«
»Dann bist du ein Vampir?«
Ungewollt zuckte Magnus zusammen. Es aus Jos Mund zu hören, machte die unüberwindlichen Unterschiede greifbar.
»Ich hätte nicht gedacht, dass an den Geschichten etwas dran ist. Aber das erklärt die eiskalte Haut, den fehlenden Herzschlag und dein Verhalten.« Er streichelte Magnus’ Hand und rückte näher heran. »Das ändert nichts für mich! Du bist kein Ungeheuer.«
Die Hitze, die Jos Körper ausstrahlte, wärmte Magnus bis ins Innere. Und seine Worte erst. Die gelassene Art, mit der der Mensch die furchtbare Wahrheit hinnahm, schickte Funken durch den kalten Vampirleib. Glutnester erwachten in seinen Eingeweiden, Flammen, die er fürchtete, obwohl sie nicht unmittelbar verbrannten. Dieses Feuer bedrohte seine Seele. Es zu löschen fand Magnus nicht die Kraft, denn in den grauen Augen, die ihn anblickten, erkannte er ein Versprechen.
»Vertrau mir!«, sprach Jo es aus.
[Mittsommerlegende – Unerwartetes Glück
Datum der VÖ: 01. Mai 2023]
© Text & Cover: Sabine Reifenstahl
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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