27. Juli 2024

Leseprobe Das Herz des Nebels | Jona Dreyer

Exklusive Leseprobe

›Das Herz des Nebels‹
Jona Dreyer

Klappentext:

»Der Nebel ist der Mittler zwischen den Welten.«

Der liebenswerte Arn, ein Angehöriger des Rehvolks, lebt mit seiner Familie im Nebeltal, das seinem Namen alle Ehre macht. Eines Abends klopft ein seltsamer Fremder an seine Tür und bittet um ein Obdach für die Nacht. Arn, den nichts neugieriger macht als die Welt außerhalb des Tals, sieht seine Chance gekommen. Er träumt davon, einmal im Leben die Sonne, den Sternenhimmel und das Meer zu sehen. Und welche Gelegenheit würde sich wohl besser dafür eignen, als sich an die Fersen des eigenbrötlerischen Wanderers zu heften?


Thornan hat eine Mission. Er ist unterwegs an die Küste, um etwas, das das Schicksal ihm in die Hände gegeben hat, an den Ort seiner Bestimmung zurückzubringen. Doch die Welt befindet sich im stetigen Zerfall und durch den schwindenden Glauben an die Magie haben sich Pforten geöffnet, die sich bald nicht mehr schließen lassen. Etwas Dunkles, Gefährliches verfolgt ihn auf seinem Weg. Und dann gesellt sich auch noch dieses süße, unerträglich fröhliche Rehböckchen aus dem Nebeltal zu ihm und bringt alles durcheinander …

 
© Jona Dreyer

Der Weg nach Eschenwinkel versank im Matsch. Knöchelhoch wateten Arn und Thornan durch den Schlamm und langsam begann die Feuchtigkeit, das Schuhwerk zu durchdringen.
»Wie weit ist es noch?«, murrte Thornan und hob seinen Fuß mit einem schmatzenden Geräusch.
»Keine halbe Meile mehr. Die ersten Eschen sind schon zu sehen, hast du sie noch nicht entdeckt?«
»Ich sehe nur Baumstämme im Nebel. Ob das Eschen sind, kann ich nicht erkennen, denn sie tragen kein Laub.«
Arn seufzte. »Hauptsache, du erkennst dann die große Esche, wenn es so weit ist.«
»Mit einem Baumexperten wie dir in meiner Begleitung kann da ja nichts mehr schiefgehen.«
Sie kämpften sich weiter durch das unwegsame Gelände. Immerhin hatte der Wind nachgelassen, aber kalt war es immer noch. Und es würde vermutlich nicht besser werden, denn der Herbst machte schon langsam dem Winter Platz.
»Warum hast du dir gerade diese Jahreszeit für deine Reise ausgesucht?«, wollte Arn wissen.
Thornan stöhnte leise auf. Die Neugier des Böckchens war das eigentlich Gefährliche; nicht einmal seine Begleitung als solche. »Es hat keinen Aufschub mehr geduldet.«
»Hattest du das Herz vorher nicht?«
»Nein.«
»Wer hat es dir überhaupt gegeben?«
»Niemand.«
»Hast du es gefunden?«
Thornan stöhnte wieder auf, diesmal deutlicher. »Du musst aufhören, diese Fragen zu stellen. Ich werde sie dir nicht beantworten und sie locken die Schatten an.«
Das schien Wirkung zu zeigen, denn Arn sah sich unbehaglich um. Langsam wurde es dunkel und wahrscheinlich würden sie auf den letzten Metern noch ihre Laternen anzünden müssen.
»Werden deine Eltern dich eigentlich nicht wieder suchen gehen, wenn sie merken, dass du davongelaufen bist?«, fragte Thornan schließlich, um das Gespräch einmal weg von sich und auf Arn zu lenken.
»Ich bin nicht davongelaufen. Sie wissen, dass ich hier bin.«
»Was?« Thornan blieb stehen und spürte, wie er augenblicklich tiefer im Schlamm versank. »Du hast ihnen doch wohl hoffentlich nichts von dem Stein erzählt, oder?«
»Natürlich nicht!« Arn schüttelte verständnislos den Kopf, aber Thornan fand den Gedanken, dass das Böckchen die Neuigkeit ganz aufgeregt seinen Eltern erzählt hatte, nicht sonderlich abwegig. »Ich habe ihnen nur gesagt, dass du etwas Wichtiges zu erledigen hast und dabei meine Unterstützung brauchst.«
»Und das haben sie dir so einfach abgenommen?« Thornan war skeptisch.
»Ja. Sie waren nicht begeistert und wollten mich überreden, zu Hause zu bleiben, aber am Ende hat mir meine Mutter doch ein Bündel mit Proviant gepackt und mein Vater hat mir ein paar Münzen zugesteckt. Vater ist manchmal etwas brummig, aber das bin ich gewohnt und vielleicht komme ich genau deshalb auch mit dir zurecht. Meine Eltern sind gute Leute, Thornan. Sie haben noch einen Glauben. Leider nicht an das große Wesen, aber an Familie und Zusammenhalt. An mich. Ich helfe dir auch für sie.«

Thornans Herz zog sich zusammen. Es schmerzte. Es war schon wund, weil das Böckchen ständig daran herumzupfte mit seinen Worten, Fragen, Blicken, mit seinen Bitten um einen Kuss. Vielleicht war das der Grund, warum Arn so eine reine Seele hatte – diese Familie. Die Thornan nie gehabt hatte. Die er nur durch Fenster hatte beobachten können in warmen, hell erleuchteten Stuben.
»Bist ein guter Junge.« Nicht wie ich. »Aber wenn wir nicht bald aus diesem Schlamm herauskommen, erwürge ich dich trotzdem, weil du uns auf diesen Weg hier geführt hast.«
»Keine Angst, wir sind bald da. Siehst du die Lichter da hinten noch nicht?«
»Lichter?« Thornan folgte Arns Fingerzeig, konnte aber nichts entdecken. Das Böckchen musste die Augen eines Adlers besitzen. »Ich sehe nichts.«
»Herrje.« Arn sah ihn fast schon mitleidig an. Was sollte das denn? »Dann komm und lauf mir einfach hinterher.«
Was blieb ihm auch anderes übrig? Missmutig stapfte er dem Böckchen hinterher, das mit einer entnervenden Fröhlichkeit durch den Matsch tänzelte und dabei ein Liedchen pfiff. Diese Fröhlichkeit war fast noch penetranter als seine Neugier. Was stimmte mit dem Kerl nicht?
Thornan war alles andere als fröhlich. Er fror, hatte Hunger und musste sich jetzt zu allem Übel auch noch mit einem unerwünschten Begleiter herumschlagen. Einem, der viel zu viel redete, viel zu viel fragte und viel zu viele Küsse einforderte. Nichts davon wollte Thornan ihm geben, kein offenes Ohr, keine Antworten, keine Küsse, aber Arns Gegenwart machte ihn schwach. So schwach wie damals, als es schlimme Folgen gehabt hatte.
»Blöder Matsch«, zeterte er. »Verdammter Herbst. Nicht mal die Blätter färben sich hier bunt, weil es gar keine mehr gibt, es ist einfach nur ekelhaft.«
»Redest du mit mir?«
»Nein. Bist du sicher, dass du dir die Lichter nicht nur einbildest?«
»Ganz sicher. Komm, wir haben es bald geschafft!«
Und er hatte recht. Nach wenigen Schritten konnte auch endlich Thornan die Lichter erkennen, die von einer Siedlung kündeten, in der warme, beheizte Häuser standen.
»Siehst du, da sind wir schon.« Sie betraten die Ortschaft, die auf einer Lichtung zwischen zahlreichen Eschen errichtet war, ähnlich wie Birkenhain, aber kleiner. Mehr wie Tannbach.
»Gibt es hier ein Gasthaus?«
»Nein, als ich zum letzten Mal hier war, gab es keins und ich wüsste auch nicht, dass sich das in der Zwischenzeit geändert hätte.«
»Dann sag mir bitte, dass du hier eine Familie wie deine kennst, die gastfreundlich ist, aber keinen neugierigen Sohn hat, der uns anschließend verfolgt.«

[Das Herz des Nebels | Datum der VÖ: 02. März 2020]

© Text und Cover: Jona Dreyer;
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
Unbezahlte Werbung.

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Phil Desforges auf Unsplash & Birgit Böllinger auf Pixabay
Bildbearbeitung: Wir schreiben QUEER