27. Juli 2024

Leseprobe Alles Liebe, deine Angst | Julia Dankers

Exklusive Leseprobe

›Alles Liebe, deine Angst‹
Julia Dankers

Klappentext:
Jeder hat eine Leiche im Keller, das sagt sich so leicht dahin. Doch was, wenn das gar nicht so weit hergeholt ist? Emma landet im Krankenhaus und kann sich an nichts erinnern. Nachtschwester Anna hilft ihr, die davonfliegenden Gedächtnisfetzen einzufangen. Weiberheldin Mila mogelt sich gekonnt in beider Leben, während sie mit bloßen Fäusten gegen die Monster aus ihrer Vergangenheit kämpft. Wohin führt Leidenschaft? Wohin Liebe?
© Julia Dankers

Stumm geleite ich Emma die 56 Stufen hinunter auf den Gehsteig und verfrachte sie ins Auto, ohne sie auch nur ein einziges Mal anzusehen. Im Wagen sitzend starre ich stur geradeaus auf das verschneite Kopfsteinpflaster und halte das Lenkrad so fest umklammert, dass meine Finger schneeweiß gegen das schwarze Plastik schimmern.
»Was zur Hölle ist da drinnen passiert?«, zische ich furchterregend kalt.
»Die meiste Zeit über hat Mila geredet«, stammelt Emma keuchend von der Anstrengung des mühsamen Abstiegs. Ich bin mir augenblicklich sicher, dass sie mir etwas verschweigt. Nachdenklich mustere ich die dunkelroten Spuren rund um ihren Hals herum. Sie erinnern mich an Fingerabdrücke. Behutsam fahre ich mit der Daumen kuppe daran entlang.
»Und sie hat dich gewürgt?«, frage ich ungläubig: »Du musst mir keine Märchen erzählen, Emma. Warum auch immer du das machst…«
»Sie wollte mir zeigen, wie sich echte Angst anfühlt«, nickt Emma nachdenklich: »Danach hat sie mir von ihrer Kindheit erzählt. Ihre Eltern sind gestorben und ihr Onkel, der fortan das Sorgerecht hatte, hat sie missbraucht. Aber sie hat ihn nicht umgebracht. Das ist die Kurzfassung. Sie hat versprochen, es mir zu beweisen. Und weißt du was, Anna? Ein Teil von mir glaubt ihr! Und ich habe keine Ahnung, warum.«
»Das ist ja toll, Emma!«, spotte ich: »Sie versucht, dich zu erwürgen und du glaubst ihr.« Verdrossen starre ich aus dem Fenster und schweige.
»Du bist sauer«, stellt Emma fest: »Was denkst du? Schrei! Tob! Raste aus! Sag mir wenigstens, wie ich dir danken kann! Für alles, meine ich.« Unbeholfen tätschelt sie meine Schulter, als sei ich ein krankes Hündchen. Augenblicklich werde ich noch wütender.
»Scheiße!«, schlage ich mit den bloßen Handflächen auf das Lenkrad ein, bis die erste Wut verpufft ist. Emmas Blick im Rückspiegel streift den meinen verhalten. Fast ängstlich, aber auch ein bisschen amüsiert blickt sie mich an. Ohne dass ich es verhindern kann, streicheln meine Augen ihre weiche Wangenhaut. Treten, beißen und spucken wäre jetzt angebracht, wenn ich drei oder vier Jahre alt wäre, ein böser Blick vielleicht mit knapp vierzig. Aber kein zärtliches Gefühl, das den festen, harten Wutball in meinem Leib so warm und watteweich werden lässt, darf mich jetzt zum Narren halten, ermahne ich mich selber.
»Verdammt, jetzt mach irgendwas!«, schnauze ich Emma an, zwei oder drei Nuancen zu mild für den militanten Moment. Eine Bombe explodiert in meinem Kopf. Gewehrsalven streifen meine Nieren und mein Herz, dass viel zu hektisch nach mir schlägt, ohne mich zu treffen. Und der watteähnliche, warme Ball in meinem Bauch zeichnet die Welt weich.
Hellblau strahlt der Himmel durch die stillen Schäfchenwolken, während der Schnee das viel zu grelle Sonnenlicht reflektiert. In solchen Momenten sollte die Sonne nicht scheinen, beschließe ich. Zu solchen Momenten passen Schneesturm, Hagel und Finsternis. Niemand hat Lust, in den Krieg zu ziehen, wenn draußen die Sonne die Schmetterlinge im Bauch wachkitzelt.
»Küss mich!«, motze ich schniefend, weil ich viel zu rührselig werde, wenn ich übermüdet bin: »Küss mich endlich wach, verdammt noch mal!« Erschöpft lasse ich mich tiefer in den Sitz sinken, schließe die Augen und warte auf das unvermeidliche Erdbeben, das die Straße aufreißen und uns mitsamt meines rostigen Wagens in die Hölle hinunterreißen wird.

Drei Sekunden sind nicht viel, wenn man das Ende der Welt erwartet. In drei Sekunden kann eigentlich kaum etwas passieren, außer ein paar Erinnerungen vor meinem inneren Auge vielleicht, denke ich und zähle stumm mit. Zwischen zwei und drei spüre ich Emmas zarte Lippen, die sich behutsam auf meine legen. Bei drei steht die Zeit still, ebenso wie mein Atem, der irgendwo zwischen unseren Mündern gefangen gehalten wird. Ich wundere mich, dass ich immer noch hier bin – bei vier. Behutsam tastet meine Zungenspitze nach der von Emma, zielstrebiger bei fünf. Und nach sechs Sekunden habe ich beinahe vergessen, wer ich bin. Zaghaft berühre ich Emmas Wange, die sich kühl und lebendig zugleich gegen meine Handfläche schmiegt.
Diesen Kampf werde ich verlieren, gestehe ich mir ein und verlasse das Schlachtfeld. Kampflos lasse ich mich von der wogenden Welle der Wagnis überwältigen, während Emma mich küsst, als hätte sie nichts mehr zu verlieren als ihren Verstand. Mein eigener ist schon lange in Deckung gegangen, ins Exil im bestem Fall. Stattdessen übernimmt mein Körper die Kontrolle, rudert mich sanft ans andere Ufer des Paradieses und bietet mir großzügig von den verbotenen Früchten an.
Seufzend ziehe ich Emma ein bisschen dichter zu mir heran. Ihr Atem kitzelt in meinem Ohr und ihr Mund verwandelt das Adrenalin aus meinen Adern in flüssiges Gold. Unter ihrer dicken Daunenjacke spüre ich ihre Brüste auf meinen. Langsam hebt und senkt sich ihre Bauchdecke unter meiner haltenden Hand, bis mein Atemrhythmus sich dem ihren anpasst.
Dies ist einer dieser stillen Momente, die sich später in der Erinnerung so laut, bunt und spektakulär anfühlen wird. Tatsächlich liegt so viel Ruhe und Gefühl darin wie ein einem tonlosen Traum. Leise rieselt der Schnee auf die Frontscheibe des Corsa.
Augenblicklich weiß ich, dass ich in Zukunft immer, wenn es schneit, an diesen einen Moment denken werde – mein persönliches Erdbeben, meine verlorene Schlacht gegen die Vernunft.
»Besser?«, fragt Emma plötzlich und streift meine Lippen ein letztes Mal.
»Ja, besser«, krächze ich, obwohl ab jetzt gar nichts mehr gut ist. Mein Gewissen wird mich umbringen, weiß ich intuitiv. Ein bisschen taub und tot fühlt sich mein Gehirn an, während mein Herz verboten lebendig von innen gegen meinen Rippenbogen schlägt. Emmas Hand auf meinem Knie wärmt die Gänsehaut in meinem Inneren fort. Und meine Lippen brennen wie Feuer, als ich sie im Krankenhaus abliefere.
Während der gesamten Fahrt sprechen wir nicht ein Wort, obwohl es so viel zu sagen gäbe, aber nichts, das uns glücklicher machte als gerade jetzt, während der rieselnde Schnee unsere Ängste schluckt und stumm auf die Straße rutschen lässt. Beherzt schalte ich in den vierten Gang und schlittere darüber hinweg…

[Alles Liebe, deine Angst | Datum der VÖ: 17. November 2019]

© Text und Cover: Julia Dankers | Main Verlag;
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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