Kehre zurück – Die fünfte Welt | Bo Alix
Leseprobe
›Kehre zurück – Die fünfte Welt‹
Bo Alix
Seit sie denken kann, begeistert sich Rafaela de la Cruz für Archäologie. Als die Studentin für Altamerikanistik von der Universität Barcelona nach Mexiko City wechselt, bemerkt sie an sich irritierende Veränderungen. Plötzlich glaubt sie, die Sprache der Azteken zu verstehen. Und ihre Träume, die sie längst als offengebliebene Fenster eines früheren Lebens akzeptiert hat, intensivieren sich auf beängstigende Weise. In ihrer Not vertraut sie sich ihrer Professorin an, von der sie in letzter Zeit auffallend protegiert wird. Ist sie diejenige, die Rafaela helfen kann, oder hat Profesora Ichtaca-Lopez gar selbst etwas mit diesen unerklärlichen Phänomenen zu tun?
Mexiko City.
Der Hörsaal der Uni war völlig überfüllt – wie immer, wenn Profesora Camila Ichtaca-Lopez eine Vorlesung hielt. Das Mikrofon verstärkte ihre Stimme ohne jegliche Störgeräusche, und Rafaela lauschte gebannt ihrem Vortrag.
»Sie alle kennen den Schöpfungsmythos der Azteken. Nachdem die Götter durch ihre Selbstopferung Himmel und Erde geschaffen hatten, wurde aus dem Gott Nanahuatzin die Sonne und aus Tcuciztecal, der es erst beim zweiten Versuch schaffte, sich in die Flammen zu werfen, der Mond. Zum Schluss jedoch erkannten die verbliebenen Götter, dass es ihrer aller Opferung bedurfte, um die Sonne in Bewegung zu bringen und sie in ihrer Bahn zu halten, und sie alle opferten sich um der Menschheit willen.« Die Profesora hielt einen andächtigen Moment lang inne.
Ein nachsichtiges Lächeln trat in die Gesichter mancher Studierenden ob dieser naiv anmutenden Erklärung göttlicher Schöpfung. Doch Rafaela drängte sich ein anderer Gedanke auf: Ist doch logisch, dass es eines Opfers bedarf. Wie sollte die Welt denn sonst entstanden sein? Aus dem Nichts vielleicht? Das alles wusste sie, seit sie ein kleines Mädchen war. Ihr Bruder hatte es ihr verraten. Dabei spielte es keine Rolle, dass sie in diesem Leben gar keinen Bruder hatte. Dann war es eben in einem früheren Leben gewesen. Seit sie denken konnte, träumte sie diese Szene: Der Junge mit dem strahlenden Lächeln, der sie so sehr liebte, dass er ihr Geheimnisse anvertraute, die er von den Männern aufgeschnappt hatte. Seit sie in Mexiko City studierte, träumte sie fast jede Nacht von ihm. Warum auch immer. Entschlossen drängte sie den Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Stimme der Dozentin.
»Es war eine logische Schlussfolgerung, dass auch die Menschen Opfer bringen mussten, um den Göttern für ihre Werke zu danken und sie gnädig zu stimmen. Mit der Einwanderung der Azteken in Mittelamerika und deren Entwicklung zu einer Hochkultur, erreichte die Anzahl der Menschenopfer sicherlich sein größtes Ausmaß. Auch wenn wir heute mit Gewissheit sagen können, dass auch die Maya zu besonderen Anlässen ihren Göttern Menschenopfer darbrachten, so stellten wir bei den Azteken eine enorme Zunahme dieser Opferungen fest. Die Wissenschaft spricht von bis zu zwanzigtausend im Jahr. Selbst wenn man berücksichtigt, dass spanische Priester als vermeintliche Zeitzeugen bei der Anzahl übertrieben haben, um die Wildheit indigener Völker und die damit verbundene Notwenigkeit zur Missionierung zu rechtfertigen, gehen wir heute davon aus, dass täglich Opferungen stattgefunden haben. Zu besonderen Anlässen durchaus mehr. Denken Sie nur an die Ballspiele, bei denen die gesamte unterlegene Mannschaft geopfert wurde. Ihre Köpfe wurden feierlich in Reih und Glied aufgespießt. Undenkbar für heutige Zeiten. Stellen Sie sich vor, wir würden nach dem Fußballmatch alle elf Verlierer einen Kopf kürzer machen – unter dem Jubel der Fans.«
Gelächter erschallte im Hörsaal. Die Profesora ließ ihren Blick über das Auditorium schweifen, während sie darauf wartete, dass wieder Stille eintrat. Rafaela versuchte, ihr Gesicht genauer zu sehen, und kniff die Augen zusammen. Sie saß zu weit hinten, hatte nur noch einen Platz in der fünfzehnten Reihe bekommen, weil ihr vorheriger Dozent in empirischer Sprachforschung überzogen hatte. Als sie hier eingetroffen war, war der Saal gerammelt voll gewesen.
Sie meinte, ein amüsiertes Lächeln im Gesicht der bemerkenswerten Frau erkennen zu können. Etwas gab ihr eine besondere Aura. Vielleicht war es ihre Körperhaltung, die absolute Ruhe, die sie ausstrahlte, oder die Sicherheit, mit der sie sprach. Als wäre alles, was sie sagte, die absolute Wahrheit und völlig unanfechtbar. An der Fakultät wurde sie nur »die Profesora« genannt.
Jeder wusste, wer gemeint war. Ihr Alter zu schätzen, fiel Rafaela schwer. Sie erschien zumindest aus der Distanz alterslos. Das schwarze Haar hatte sie zu einem einfachen, festen Knoten zusammengebunden. Die hohen Wangenknochen und die fast schwarzen Augen ließen Rückschlüsse auf ihre Abstammung zu. Ganz sicher floss Blut der Völker durch ihre Adern, von denen sie in ihren Vorlesungen berichtete. Vielleicht lag auch darin ihre besondere Ausstrahlung begründet.
Rafaela klebte bei jeder Vorlesung an ihren Lippen und sie war davon überzeugt, dass man den Lehrstuhl für indigene Ethnologie und Kulturanthropologie nicht besser hätte besetzen können. Es gab Kommilitonen, die behaupteten, im ganzen mittelamerikanischen Raum gäbe es keine neuen Funde, an denen sie nicht in irgendeiner Form beteiligt wäre.
Nun beschrieb sie die Art und Weise früher mayanischer Menschenopferungen, die von den Azteken in gleicher Weise übernommen worden waren. Etwas, worüber man schon etliches gelesen hatte, weil der Stoff die richtige Portion Grusel und Voyeurismus bot. Die Profesora beschrieb die Opferung nun mithilfe eingeblendeter Aufnahmen von Steinreliefs, die alle dasselbe Motiv zeigten. »Wie Sie sehen, fanden die Menschenopferungen auf dazu vorgesehenen Altären statt. Das Opfer wurde an Armen und Beinen festgehalten, während man vom Bauch herkommend das Brustbein mit einem Messer aus Obsidian durchschnitt, den Brustkorb auseinanderbog und das Herz mit raschen Schnitten entnahm, sodass es in den Händen des Priesters, die sich anbetend gen Himmel streckten, noch ein paar Mal zuckte. Der Körper des Geopferten wurde anschließend die Pyramide heruntergeworfen. Ob das der Einfachheit halber geschah, oder ebenso einer rituellen Vorgabe entsprach, können wir heute nicht mit Gewissheit sagen.«
Rafaela schüttelte den Kopf. Wie viele Zehntausende mochten ein solches Ende gefunden haben? Was war das für ein bestialischer Schmerz, wenn einem bei vollem Bewusstsein das Herz herausgeschnitten wurde?
Der Gong ertönte. Die Vorlesung war vorüber. Erleichtert tauchte Rafaela aus der Welt der Azteken auf und fühlte sich geradezu gnädig von der Gegenwart aufgenommen. Die Profesora legte den Laserpointer aus der Hand und entließ die Studierenden mit einem knappen Kopfnicken. Hunderte Fingerknöchel klopften auf die Schreibpulte, um ihren anschaulichen Unterricht zu honorieren. Bei dem Geräusch hoben sich ihre Mundwinkel leicht. Dann packte sie ihre Unterlagen in die Aktentasche, während viele Studierende nach vorne drängten. Sicher fragten sie sie, ob sie bereit wäre, ihre wissenschaftlichen Arbeiten zu begleiten. Alle wollten ihre Arbeit mit der Profesora in Verbindung bringen, egal ob als Erstbetreuerin oder Zweitkorrektorin. Hauptsache, ihr Name würde auf dem Titelblatt stehen: Profesora Doctora Camila Ichtaca-Lopez. Ein Türöffner bei der späteren Jobsuche! Rafaela konnte ihre Kommilitonen hier in Mexiko verstehen. Die Arbeitslosenquote war hoch, jeder versuchte, sich so gut wie möglich zu positionieren. Wie sollte ausgerechnet sie es schaffen, eine Koryphäe wie die Profesora als Betreuerin für ihre Masterarbeit zu gewinnen?
Der Strom von Menschen, die den Raum verließen, zog Rafaela am Pult der Profesora vorbei. Wie gerne hätte sie ihr gegenüber etwas vorzuweisen gehabt, um ihr Interesse zu wecken. Leider war da nichts. Sie war nur eine von unendlich vielen. Widerwillig ließ sie sich durch die Tür drängen, hinaus auf dem Gang, der zum Campus führte.
Sie bemerkte nicht mehr, wie die Profesora ruckartig den Kopf drehte und ihr mit einem Ausdruck starren Erstaunens hinterherblickte.
[Kehre zurück – Die fünfte Welt
Datum der VÖ: 26. März 2023]
© Text: Bo Alix; Sanne Hipp
© Cover: Florin Sayer-Gabor; 100covers4you.com
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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