Ein Traum für zwei | Leonora Herzberg
Leseprobe
›Ein Traum für zwei‹
Leonora Herzberg
Was würdest du riskieren, um deinen größten Traum zu erfüllen?
Die Psychologiestudentin Iris hat ein ungewöhnliches Talent: Sie kann ihre Träume kontrollieren und im Schlaf erleben, was immer sie sich wünscht. Leider nützt das im echten Leben weder etwas gegen Zukunftsängste und Geldsorgen, noch gegen die Nervosität, die Iris packt, wenn sie der neuen Professorin gegenübersteht. Denn die ist intelligent, furchterregend und schön – und spielt plötzlich die Hauptrolle in Iris‘ Träumen.
Für Neurowissenschaftlerin Carolin Adler steht die Karriere an erster Stelle. Gefühle und andere Schwächen kann sie sich nicht leisten. Mit ihren hohen Ansprüchen versetzt sie die Studenten in Angst und Schrecken. Doch als die schüchterne Iris ihr unerwartet die Stirn bietet, ändert sich alles.
Ihre gemeinsame Forschung bringt sie zusammen, und Carolin entdeckt, wie viel wirklich in Iris steckt. Je besser sie sich kennenlernen, desto stärker wird die Anziehung zwischen ihnen. Aber eine Beziehung zwischen Professorin und Doktorandin ist ausgeschlossen. Sie müssen ihre Gefühle geheim halten, sonst riskieren sie, alles zu verlieren.
Können sie gemeinsam alle Regeln brechen – und ihre Träume wahr machen?
Iris wünschte, sie wäre in einem Albtraum.
Mit Albträumen konnte sie umgehen. Seit sie als Kind herausgefunden hatte, dass sie ihre eigenen Träume steuern konnte, hatten die unheimlichsten Monster und Ängste ihren Schrecken verloren. In ihren Träumen hatte sie die Kontrolle, und ihr konnte nichts Schlimmes geschehen.
Doch das hier war kein Traum, das hatte sie überprüft. Mehrfach.
Nein, das hier war die Realität. Ein Flur im Institut für Neurowissenschaften, eine Tür mit einem kleinen Schild, auf dem stand: Prof. Carolin Adler.
Sie atmete tief durch und klopfte an.
»Herein.«
Die Stimme war weich und klangvoll, doch die Sprecherin machte sich nicht die Mühe, den Hauch von Gereiztheit zu verbergen, der darin mitschwang. Professor Adler hatte offenbar wichtige Arbeit zu erledigen, und sie schätzte es nicht, wenn man sie grundlos unterbrach.
Aber Iris hatte einen guten Grund. Leider. Sie tat es für ihre beste Freundin. Iris wäre lieber eintausend Albtraumkreaturen entgegengetreten, als die Professorin zu konfrontieren—aber sie konnte Emily nicht im Stich lassen.
Also öffnete sie die Tür und trat ein.
Das Büro war hell und so aufgeräumt, dass es fast leer wirkte. In der Mitte stand der Schreibtisch, eine dünne Glasplatte auf schlanken Beinen. Darauf lagen ordentlich ausgerichtet ein paar Bücher, eine Dokumentenmappe aus schwarzem Leder, Stifte und ein metallenes Lineal, auf dessen scharfer Kante das Sonnenlicht glänzte. Das Zentrum des Ensembles war der Laptop, auf dem Professor Adler soeben mit konzentrierter Miene tippte.
Iris schloss die Tür hinter sich, blieb unschlüssig stehen und warf einen Blick zu der Frau am Schreibtisch. Professor Adler war erst Anfang dreißig und technisch gesehen Junior-Professorin, doch die kantige Brille mit dem Metallrahmen, der dunkelgraue Hosenanzug und der strenge Knoten, in dem sie ihr blondes Haar trug, ließen sie älter erscheinen. Iris kam sich in ihrem bunt gestreiften Wollpullover sofort unpassend gekleidet vor.
Professor Adler blickte auf, eine Augenbraue leicht hochgezogen.
»Also?«, fragte sie. »Wer sind Sie, und wie kann ich Ihnen helfen?«
Sie war schön, auf eine ernste, ruhige Art. Das machte Iris nervös.
»Ich bin Iris Lemberg, ich studiere hier im Master Psychologie. Aber es geht nicht um mich, sondern um eine Freundin von mir. Emily Schönlein. Sie hat ein Modul an einer anderen Uni belegt, und sie muss das für ihren Studiengang hier anrechnen. Sie braucht es dringend, weil…«
Professor Adler hob die Hand. Iris verstummte.
»Der Fall ist mir bekannt. Warum ist Frau Schönlein nicht selbst hier, sondern schickt stattdessen Sie vor?«
Iris suchte nach einer Umschreibung, die Professor Adler nicht beleidigen würde. »Ich glaube, sie ist zu höflich und wollte Sie vermutlich nicht stören.«
Das war eine Untertreibung. Emily hatte eine ausführliche E-Mail mit ihrem Anliegen geschrieben. Doch Professor Adler hatte ihre Bitte mit einer einzigen Zeile abgeschmettert. Also hatte Emily sich gar nicht erst getraut, herzukommen.
Aber Iris wusste, wie viel für ihre Freundin auf dem Spiel stand, und war entschlossen, es zumindest zu versuchen.
»Sie war also zu höflich«, sagte Professor Adler, und ein spöttischer Ton schlich sich in ihre Stimme. »Aber Ihnen macht es nichts aus, unhöflich zu sein?«
»Nein—ich meine, doch!«
Iris’ Wangen wurden heiß. Sie wich dem durchdringenden Blick der stahlgrauen Augen aus. »Sie sollten sich ihre Sicht der Dinge zumindest anhören.«
»Und wie kommen Sie zu der Ansicht, dass ich das nicht getan hätte?« Professor Adlers Tonfall wurde schärfer. »Frau Schönlein hat ein Seminar zu statistischen Methoden belegt, dass offensichtlich ein weitaus geringeres Verständnis quantitativer Methoden verlangt als unser Modul Diagnostik und multivariate Verfahren. Daher kann sie damit unmögliche ihre diesbezüglichen Fähigkeiten nachweisen.«
Iris schüttelte den Kopf. »Aber Emily beherrscht diese Methoden! Und es ist wichtig. Wenn Sie das Seminar nicht anerkennen, muss Emily bis zum nächsten Wintersemester warten, wenn die Vorlesung wieder bei uns angeboten wird. Das heißt, sie muss ihre Promotion um ein halbes Jahr verschieben. Und ohne Promotion kann sie im Herbst ihren Forschungsaufenthalt in den USA nicht antreten!«
Professor Adlers Gesicht mit den scharf geschnittenen Wangenknochen blieb kühl und unbewegt. »Das hätte Ihre Freundin sich früher überlegen sollen. Alles, was hier zählt, ist ihre Leistung. Machen Sie sich keine Illusionen, dass Sie mich mit Ihrer kleinen Geschichte rühren können. Ich behandle alle Studenten gleich, und ich mache keine Ausnahmen.«
»Aber sie hat es sich überlegt! Der Professor, der vor Ihnen an diesem Lehrstuhl war, hat ihr versprochen, dass sie das Seminar anrechnen kann!«
Professor Adlers Nasenflügel weiteten sich, und sie schnaubte leise. »Dann ist es bedauerlich, dass er offensichtlich einen niedrigeren Standard ansetzt. Ich hingegen erwarte ein gewisses fachliches Niveau von zukünftigen Doktoranden. Und dieses hat sie bedauerlicherweise nicht nachgewiesen.«
Sie erhob sich. Iris spürte, dass sie kurz davor war, aus dem Büro geworfen zu werden. Professor Adlers Geduld war offensichtlich erschöpft. Doch Iris wusste, dass Emily talentiert und fähig war, dass sie eine großartige Doktorarbeit schreiben würde, wenn man sie nur ließ. Es wäre einfach unfair, ihre akademischen Ziele wegen einer reinen Formalität zu ruinieren.
»Wenn Sie wüssten, was Emily kann, würden Sie das anders sehen!«, sagte sie in einem verzweifelten Anflug von Kühnheit.
»Ist das so?«, sagte Professor Adler. Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch. »Und Sie können das besser einschätzen als ich?«
Iris sah zu Boden. Natürlich dachte sie das nicht. Professor Adler war intelligent, erfolgreich und kannte ihr Fachgebiet in- und auswendig. Iris war nichts weiter als eine unbedeutende Studentin, und wenn die Professorin wüsste, wie wenig sicher sie sich ihrer Sache war, hätte sie vermutlich über sie gelacht und sie sofort hinausgeworfen. Aber sie versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. Auch wenn es ihr schwerfiel, während ihr Herz raste und ihre Kehle sich zusammenzog. »Nein, das denke ich nicht. Aber haben Sie ihre Masterarbeit gelesen?«
»Nein. Warum sollte ich?«
»Sie benutzt multivariate Verfahren für ihre Analyse. Und sie hat eine 1,0 dafür bekommen. Also beherrscht sie diese Methoden auf einem Niveau, das ganz bestimmt für die Vorlesung reichen würde.«
Professor Adlers Blick wurde durchdringender. War das Interesse, das da aufblitzte? Oder bloß Ärger darüber, dass Iris sich ihr immer noch widersetzte?
»Und was qualifiziert Sie dazu, dieses Urteil zu treffen? Haben Sie auf diesem Gebiet promoviert? Erleuchten Sie mich. Was war Ihr Thema?«
»Äh, nein. Ich, also, ich schreibe gerade an meiner Masterarbeit…«
Sie machte den Fehler, aufzublicken, und Professor Adlers stählerne Augen bohrten sich gnadenlos in ihre.
»Ich nehme an, Sie selbst sind ein unentdecktes Genie und werden in Kürze zu diesem Thema eine bahnbrechende Forschungsarbeit vorlegen.« Professor Adlers Stimme triefte vor Sarkasmus. »Haben Sie vielleicht Interesse daran, meinen Lehrstuhl zu übernehmen? Dann können Sie alle Entscheidungen über die Studenten treffen, ganz wie Sie es für richtig halten.«
»Das wollte ich damit nicht sagen…«, sagte Iris. Jetzt war sie zu weit gegangen. Sie hatte Professor Adler beleidigt und sich noch dazu schrecklich blamiert. »Ich meine nur, wenn Sie Emilys Masterarbeit lesen würden, dann würden Sie sehen, dass sie das wirklich kann. Ich verspreche es.«
Die Professorin sah sie einen Augenblick lang an, einen seltsamen Ausdruck in den Augen—eine Mischung aus Spott, Irritation und Neugier.
»Sie versprechen es. Sie scheinen sich Ihrer Sache ja absolut sicher zu sein.«
»Das bin ich«, sagte Iris.
Professor Adler schwieg einen Augenblick. Iris wartete mit klopfendem Herzen. Sie hoffte inständig, dass sie jetzt nicht alles nur noch schlimmer für Emily gemacht hatte.
»Dann werde ich mir diese Masterarbeit wohl ansehen müssen. Es kann schließlich nicht angehen, dass ein junges Talent an unserem Institut sich nicht frei entfalten kann.«
Sie klang noch immer spöttisch, doch Iris wagte es, ein wenig Hoffnung zu fassen.
»Sie werden ihr also eine Chance geben?«
»Wenn sich herausstellt, dass sie ihre Qualifikationen im Bereich der multivariaten Verfahren eindeutig demonstriert hat, werde ich in Erwägung ziehen, das Seminar anrechnen zu lassen.«
Iris atmete auf. Doch Professor Adler war noch nicht fertig mit ihr.
»Sie kann sich bei Ihnen für das feurige Plädoyer bedanken. Und für die unerträgliche Beharrlichkeit.«
Iris sah verlegen zur Seite.
»Im Übrigen, was ist eigentlich Ihr Schwerpunkt? Auch die neurokognitive Psychologie?«
Iris nickte. »Genau.«
»Und Sie sind auch bald mit dem Master fertig?«
»Ja. Mir fehlt nur noch eine Vorlesung.«
Iris hoffte, dass Professor Adler keine weiteren Fragen stellen würde. Über ihre eigenen akademischen Leistungen sprach sie nur sehr ungern. Doch die Lippen der Professorin verzogen sich nur zu einem dünnen Lächeln. »Nicht zufällig die Vorlesung Bildgebung des zentralen Nervensystems?«
»Doch«, sagte Iris und ahnte Übles.
»Das trifft sich gut. Dieses Modul werde ich im nächsten Semester geben.«
Iris unterdrückte ein Stöhnen. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie und Emily würden Professor Adler wieder unter die Augen treten müssen. Jede Woche würden sie in ihre Vorlesung kommen und diesen prüfenden Blick auf sich spüren.
Professor Adler lächelte nun noch breiter. »Wie überaus erfreulich. Ich hoffe, ich werde dann noch mehr Kostproben von Ihren scharfsinnigen Beobachtungen erhalten. Zögern Sie auch nicht, die anderen Studenten an Ihren Einsichten teilhaben zu lassen. Ich bin sicher, die zukünftige Professorin Iris Lemberg kann uns allen viel beibringen.«
Iris’ Wangen glühten vor Scham.
Wieder wünschte sie, all das sei ein Traum. Dann könnte sie sich einfach unsichtbar machen. Oder aus dem Fenster springen und davonfliegen, um dieser peinlichen Situation zu entrinnen.
Doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich verlegen zu räuspern und dem Blick der Professorin auszuweichen, bis diese endlich Erbarmen hatte und sie entließ.
»Ich freue mich schon auf unsere Zusammenarbeit«, sagte sie und reichte Iris die Hand zum Abschied. Ihre Finger waren schmal und feingliedrig, doch ihr Händedruck war beinahe schmerzhaft fest.
»Wir sehen uns in der Vorlesung.«
»Ja. Vielen Dank noch mal«, murmelte Iris, und floh aus dem Büro.
[Ein Traum für zwei | Datum der VÖ: 29. Juli 2022]
© Text & Cover: Leonora Herzberg
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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