10. Oktober 2024

Der stille Junge | Dennis Kenzie

Leseprobe

›Der stille Junge‹
Dennis Kenzie

Klappentext:

Chris und seine Schwester sind völlig überrascht, als eines Abends ein neuer Junge in ihrer Pflegefamilie auftaucht. Vor allem Chris ist wenig begeistert, dass er von nun an sein Zimmer mit Stefan teilen muss. Aber ein Teil von ihm ist auch völlig fasziniert von diesem stillen Jungen, der aussieht, als hätte er tagelang im Wald gelebt.

Mit viel Geduld gelingt es Chris eine Verbindung zu seinem wortkargen Zimmergenossen aufzubauen und sie kommen sich näher. Doch gerade als Chris und Stefan versuchen ihre Gefühle füreinander auf die Reihe zu bekommen, werden sie überraschend von Stefans rätselhafter und gefährlicher Vergangenheit eingeholt. Und plötzlich muss Chris erkennen, dass ihm Stefan nicht die gesamte Geschichte erzählt hat… nicht mal annähernd…
Wird er trotzdem alles aufs Spiel setzen um Stefan zu retten?

© Chris Kenzie

Als Lisa nach ein paar Minuten wieder ins Zimmer kam, setzte sie sich neben mich aufs Bett.
“Seltsamer Junge, oder?”
“Das kannst du laut sagen”, antwortete ich, ohne die Augen zu öffnen. “Er hat noch kein Wort gesagt, seit er hier ist.”
“Nicht jeder kann so viel reden wie du, Brüderchen”, neckte sie. “Und wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist.”
“Ja, ja … Du hast recht. Trotzdem ist er seltsam. Was ist, wenn er die ganze Zeit so ist? Ich halte das keine zwei Wochen aus.”
“Gib ihm einfach etwas Zeit.”
Ich schupste Wolf vorsichtig von mir runter und richtete mich auf.
“Hoffen wir das Beste. Hilfst du mir mit dem Bettzeug?”
“Klar.”
Gemeinsam hatten wir das Sofa schnell in ein ansehnliches Bett verwandelt. Wobei wir nur noch Mama-Claudias selbstgenähte Batik-Bettwäsche gefunden hatten. Alle anderen waren wohl in der Wäsche. Danach ging Lisa wieder in ihr Zimmer und kurz darauf kam Stefan herein.
“War die Dusche gut?”, erkundigte ich mich und Stefan nickte leicht. Seine kurzen Locken waren nass und ein kleiner Wassertropfen hielt sich hartnäckig über seiner Stirn. Er wirkte entspannter als vorher und auch wesentlich sauberer. Aber er hatte sein altes T-Shirt und die zerrissene Hose wieder angezogen. Mühsam humpelte er zu seinem neuen Bett und setzte sich an den Rand. Es schien, als würde ihm alles wehtun.
“Warte, ich hole dir ein paar saubere Sachen zum Anziehen.”
Ich suchte ein altes T-Shirt von mir heraus, ein schwarzes mit einem weißen Antifa-Logo drauf. Und ein paar Boxershorts, die mir viel zu eng waren. 
“Hier… das sollte passen… zumindest irgendwie”, sagte ich und legte die Sachen neben ihn auf die Bettcouch. Während ich noch überlegte, ob ich lieber rausgehen sollte, zog er sich schon etwas umständlich das T-Shirt über den Kopf.
“Ach du Scheiße”, entfuhr es mir.
Sein Bauch und seine linke Seite sahen aus wie ein abstraktes Gemälde eines Künstlers, der kräftige Farben liebt. Helles Grün mischte sich mit dunklem Blau, ging über in leuchtendes Gelb und explodierte in dunklem Rot. 
“Was ist mit dir passiert? Hat Dich jemand als Sandsack benutzt?”
Stefan sah mich nur kurz traurig an und zog sich mein viel zu großes Antifa-Shirt über. Dann öffnete er seine Jeans und schob sie nach unten. Dabei kam der völlig durchnässte Verband an seinem rechten Oberschenkel zum Vorschein.
Mit spitzen Fingern nahm ich sein T-Shirt und seine Jeans und versuchte, sie so wenig wie möglich zu berühren.
“Was soll ich damit machen? Waschen oder verbrennen?”, versuchte ich witzig zu sein.
Stefans Blick verfinsterte sich.
“Tut mir leid”, stotterte ich. “So war das nicht … Ich meine, das war nur ein Scherz …”
Ich war so ein Idiot. Das waren wahrscheinlich seine einzigen Sachen und ich wollte sie verbrennen.
“Ich werfe sie in die Wäsche”, sagte ich beschämt und brachte seine Klamotten ins Bad. Bevor ich seine Jeans in den Wäschekorb warf, betrachtete ich die zerrissene Stelle genauer. Der Riss war mindestens zehn Zentimeter lang und die Ränder waren ausgefranst und blutig. Als hätte jemand mit einem stumpfen Messer und viel Kraft auf ihn eingestochen.

 

Was zum Teufel war mit ihm passiert?
Kopfschüttelnd legte ich die Hose in den Korb.
Als ich wieder ins Zimmer kam, saß Stefan immer noch auf der Bettkante und löste den nassen Verband von seinem Oberschenkel.
“Brauchst du Hilfe?”, bot ich an.
Stefan sah nicht einmal auf, sondern schüttelte nur den Kopf. Nach ein paar Sekunden sagte ich:
“Ich hole dir frisches Verbandszeug.”
Nach einigem Suchen fand ich in unserem Medizinschrank alles, was ich brauchte … einen frischen Verband, eine Wundauflage und etwas zum Desinfizieren.
“Du hast Glück. Mama Claudia hat gerade unsere Vorräte aufgefüllt.”
Inzwischen hatte Stefan den nassen Verband gelöst und entfernte gerade die Wundauflage. die fast durchgeblutet war. Nur am Rand war noch etwas Weiß zu sehen. Die Wunde darunter war knapp zehn Zentimeter lang und verlief in einem leichten Bogen. Sie war zwar genäht worden, aber zwischen den Nähten hatte sich das Blut seinen Weg an die Oberfläche gebahnt und war zum Teil verkrustet. Die Haut um die Wunde war tiefrot und geschwollen. Allein das Hinsehen tat weh.
“Du machst wirklich keine halben Sachen”, kommentierte ich und gab ihm das Desinfektionsmittel, das er großzügig auf die Wunde sprühte. Dann nahm er das frische Pflaster und drückte es auf die Wunde. Ich sah, wie er dabei das Gesicht verzog und die Zähne zusammenbiss.
An seiner Stelle hätte ich laut geflucht und gejammert.
Als er mehrfach erfolglos versuchte, sich selbst den Verband anzulegen, hatte ich genug.
“Jetzt reicht‘s.”
Er zuckte zurück und sah mich erschrocken an.
“Ich kann dir helfen. Du musst das nicht alleine machen”, wiederholte ich. Ein paar Sekunden starrten wir uns an und seine grauen Augen suchten etwas in meinem Blick. Eine böse Absicht, einen Hintergedanken vielleicht. Schließlich gab er nach und ließ mich helfen.
Während er die Wundauflage hielt, wickelte ich den Verband um seinen sehnigen Oberschenkel. Seine von feinen blonden Haaren bedeckte Haut war nach der Dusche angenehm warm.
“Zu fest?”, erkundigte ich mich, als ich fast fertig war und sah zu ihm auf. Unsere Blicke trafen sich für einen kurzen Moment.
Dann schaute er schnell weg und schüttelte den Kopf. Dabei lösten sich ein paar Wassertropfen aus seinem Haar und flogen zur Seite. Es war schon merkwürdig, wie mir all diese Details plötzlich wichtig erschienen.
Ich befestigte den Verband mit zwei Klebestreifen und setzte mich neben Stefan auf die Couch.
“Wie ist das passiert?”, stellte ich die Frage, die mich die ganze Zeit schon beschäftigte.
Stefan hatte den Kopf gesenkt und schien seine Hände auf seinem Schoß eingehend zu studieren. Doch statt einer Antwort schüttelte er nur wieder den Kopf und ich seufzte resigniert.
“Na gut. Wenn du darüber reden willst… Ich bin hier.”
Jetzt sah er mich an und auf seinem Gesicht lag ein unsicheres Lächeln, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Fasziniert bemerkte ich, dass seine Augen nicht grau, sondern eher blaugrau waren… mit kleinen braunen Einschlüssen um die Iris herum. […]

[Der stille Junge
Datum der VÖ: 01. Dezember 2023]

© Text & Cover: Dennis Kenzie
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
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